Mitgefühl

15. Oktober


Der Mond hatte bereits einen großen Teil seines nächtlichen Weges zurück gelegt, als sich Eoddren von Samuyel vor dem Gasthaus verabschiedete. Nachdenklich, mit zusammen gezogenen Brauen und einem Gesichtsausdruck, welcher sich voller Mitgefühl abzeichnete, schüttelt er langsam und mehrfach den Kopf. Erst als der Trobador nicht mehr in Sichtweite war, auf seinem Weg zum Garten, in welchem er sich so viele Male mit Alandurien getroffen hatte, ging auch der Rohirrim zu seinem Pferd.
Er strich ihm zärtlich über den Nasenrücken, während er die Zügel losband, vom Stellplatz in der Nebengasse des ’Tänzelnden Ponys’. »Farados, mein alter Junge…. Es schmerzt regelrecht ihn so zu sehen und noch mehr reißt es auch alte Wunden wieder in mir auf…,« sprach er leise zu seinem groß gewachsenen, muskulösen Rappen. Ross und Reiter der Rohirrim wird eine enge Verbindung nachgesagt, jene Verbindung, welche Reiter und Ross im Kampf zu einer Einheit werden lassen und auch im Alltag blindes Verstehen bedeutet. Und so schnaubte Farados bei den Worten seines Reiters und Freundes kurz auf, streckte seinen Kopf nach unten und stupste Eoddren am Brustkorb entgegen.
»Ja … Genau hier schmerzt es,« antworte ihm der Rohirrim mit sanfter Stimme und ein flüchtiges Schmunzeln zeichnete sich im Gesicht des Mannes ab. Er legte die Zügel über den Hals des Tieres, stieg in den Steigbügel und mit einem Schwung setzte er sich in den Sattel, während Farados bereits die ersten Schritte ansetzte. Die erst wenige Wochen zurück liegende Hiebwunde an seiner rechten Seite, schien sichtlich gut zu verheilen und bereitete den Reiter mittlerweile kaum noch Schwierigkeiten beim Auf- und Absitzen, sowie beim Nachgehen seiner Arbeit an der Schmiede. Lediglich ein leichtes Ziehen der darunter liegenden Muskeln, sowie eine Druckempfindlichkeit der Narbe, spürte er gelegentlich noch, vor allem seit dem er, am selben Tag, wieder sein Training mit Schwert und Schild aufgenommen hatte.

In Gedanken versunken, hält er seinen Kopf gesenkt, als er auf dem Pferd durch Bree ritt und nur hie und da korrigierte, wenn Farados der Meinung war, er müsse seine Geschwindigkeit erhöhen und in einen leichten Trab verfallen. Erst als sie beim südlichen Tor hinaus ritten, ließ Eoddren seinem Ross freie Hand und dieser verfiel sehr schnell zunächst in einen zügigen Trab um dann sogar im leichten Galopp über die Wiesen und Wege südlich von Bree zu fliegen. Es war eine angenehme Nacht, sternenklar, ein noch leichter, warmer Wind, doch zeigten bereits Bäume und die Temperatur, dass es Herbst geworden ist und die kalten Tage nicht mehr lange auf sich warten lassen. Es war jene Jahreszeit, welche ihm immer wieder schlaflose Nächte bescherte, die Erinnerungen an die Ereignisse in der Heimat, dem Verrat seiner Verlobten, ihr Gesicht, ihre Augen und auch ihre Worte, welche so sehr schmerzten hatten sich für immer an jenem Tag, von vor 22 Jahren, in sein Gedächtnis gebrannt. Der Umstand, dass der Geburtstag der Zwillinge vor der Türe stand, hob seine allgemeine Stimmung keineswegs. Denn nicht nur diese Erinnerung war es die ihm in jener Jahreszeit einholte. Unbewusst in Gedanken versunken, griff er sich an seine rechte Schulter und rieb über eine wesentlich ältere Narbe unterhalb des Schlüsselbeins.
Es war sein Mahnmal, sein Schwur gegenüber seiner Familie, welchen er um keinen Preis der Welt brechen würde. Theonrid, sein Neffe, durfte nicht dem selben Wahnsinn verfallen wie sein Vater Morserek und sein Schwert gegen Freund und Familie erheben, getrübt durch den nackten Blutrausch.

Jene Gesichter in Angmar waren es, welche sich ebenso eingebrannt hatten. Die wahnsinnigen Augen seines besten Freundes, als er ihm die vergiftete Klinge durch die Schulter bohrte, ein trauriges, um Verzeihung flehendes Gesicht seiner Schwester und das später hinzu gekommene warmherzige und freundliche Gesicht seines Neffen. Immer wieder erlebte er diese Erinnerungen in seinen Albträumen, brachten ihn um den erholsamen Schlaf und quälten seine Gedanken.
Wieder einmal waren es die heilenden Hände und das Jahrtausend alte Wissen der Nandorelbe Alandurien, welche ihm vor den sicheren Tod rettete. Alandurien Ninlass, eine lange Freundin an der Seite der Geschwister, kam und ging wie ein Blatt im Wind und war doch stets immer dort wo sie gebraucht wurde, wenn dies sich auch oftmals erst später offenbarte.

Farados kannte den Weg, er kannte ihn nur zu gut, sodass sich sein Reiter weiterhin seinen Gedanken widmen konnte und zielstrebig vor sein Haus in eine kleine idyllische Siedlung südlich von Bree getragen wurde. Erst jetzt hob Eoddren wieder seinen Kopf, blickte sich um mit einem Schmunzeln und erkannte, dass er zu Hause war. Ein zu Hause welches ihm Schutz, Erinnerungen, Freiheit und Geborgenheit bot und momentan geteilt wurde. Manyulana, eine Schülerin des Trobadors und Freundin des Wächters, hatte er vor zwei Nächten angeboten bei ihm zu wohnen, bis die kalte Jahreszeit vorüber war. Sie lebte in einem kleinen Zelt ausserhalb der Stadt und hatte es schwer in ihrem Leben, so waren auch ein weiches Bett, geschlossene Räume und die Umgebung eines Hauses für sie fremd.

Sich besinnend und nachdem er Farados Sattel und Zaumzeug abgenommen hatte, öffnete er leise und vorsichtig die niemals abgeschlossene Türe seines Hauses, stieg bereits im Wohnraum aus den Stiefeln und schlich förmlich durch sein Haus in Richtung Schlafzimmer. Dort lag sie, wieder einmal eingehüllt in sein Bärenfell, welches vor dem Kamin lag, seine grün-schwarze Decke als Kopfkissen benutzend und schlief. Eoddren musterte sie mit einem sanften Lächeln eine Zeit lang, ihre endlos langen schwarzen Haare umrahmten das Gesicht, ihr zierlicher, aber doch muskulöser Körper zusammengerollt, eingehüllt in das Fell, seine zusammengerollte Decke mit einer Hand fest umschlungen, den Kopf darauf bettend lag sie da. Das Feuer im Kamin flackerte nur noch ein wenig und so legte er mit aller Vorsicht und Lautlosigkeit einige Scheite nach, sodass es trotz geöffnetem Fenster wieder an Wärme gewinnen konnte. So ganz war er sich nicht sicher, ob sie seine Decke tatsächlich gewaschen hatte, wie sie ihm zuletzt versicherte, doch er wollte nicht erneut nachfragen und sie in Verlegenheit bringen. Sie war eine wunderhübsche Frau, gepeinigt in der Vergangenheit und auf der Suche nach sich selbst und doch wusste Eoddren nicht so recht, was er nun genau für sie empfand. Einerseits war es die reine Begierde, doch andererseits lernte er an ihr eine Seite kennen, welche er respektierte und sie nicht verletzen wollte.

Schweigend ging er zu seinem Bett, die Stiefel daneben gestellt, ließ er sich auf jenes Fallen, starrte an die Decke und dachte an Alandurien und an Samuyel. Vor allem letzterer war es, welcher ihm Sorgen bereitete mit seinem endlosem, deutlich sichtbarem Schmerz, der Selbstzweifel und scheinbar auch Reue seiner Entscheidung. Doch er hatte sich entschieden und der bisher gemeinsam gegangene Weg der Beiden sollte ebenso schnell ein Ende finden, wie er begann.
Eoddren machte sich nicht die Mühe und legte seine Kleidung ab, er war viel zu müde und in Gedanken woanders, sodass ihn nach einer gefühlten Ewigkeit des Sinnieren, der Schlaf übermannte und er am Rücken liegend, seinen linken Arm hinter den Kopf lagernd, seine andere Hand am Bauch liegend die Augen schloss und einschlief, traumlos.

Trotz des Versuchs des Rohirrim dieses Mal die allerhöchste Lautlosigkeit, welche ihm möglich ist, zu verwenden, öffnete Lana dennoch ihre Augen. Sein ruhiges, rhythmisches Atmen, sowie das nun wieder deutlich lautere Knistern des Kaminfeuers hatten sie aufgeweckt. Nach wie vor schlief sie nicht sehr tief und hatte sich an die Geräusche nicht gewöhnt, sodass jede leiseste Veränderung dessen sie wach werden ließ. Etwas schlaftrunken setzte sie sich auf und sah, dass Eoddren wieder zurück gekommen ist und eingeschlafen war, doch Friedlichkeit zeichnete sich nur bedingt in seinem Gesicht ab, leichte Stirnfalten verrieten, dass er nicht ohne Gedanken einschlief. Doch sollte es für beide eine ruhige Nacht werden, ohne Albträume oder Störungen. Mit einem Schmunzeln stand sie noch einige Augenblick am Fuße des Bettes und beobachtete ihn, ehe sie sich wieder in das Fell kuschelte und wieder in das Land der Träume wanderte.