Bei klarem Verstand

Der Herbst schritt schnell voran und mit ihm kam auch der Jahrestag der Geschwister immer näher, welcher unterschiedlicher nicht gefeiert werden kann. Während Eaddren keinen Hehl aus diesem Tag macht, zog es ihr Bruder, Eoddren vor, sich stets während dieser Zeit aus der Griffreichweite seiner Vertrauten zu ziehen. Bereits Wochen zuvor und auch noch die eine oder andere danach plagen ihn immer wieder Albträume ob Vergangenes, mit welchem er nach wie vor nicht abgeschlossen hat, auch wenn es äußerlich den Schein erweckt. Sei es nun der Verrat in der Heimat oder auch nur die Sorge um seinen Neffen oder aber die einhergehenden Erlebnisse damals in Angmar mit seinem besten Freund Morserek, welche zu seiner Narbe an der Schulter führten.

Auch dieses Jahr wollte er eigentlich nur für einige Tage wieder in den Norden, etwas abschalten, sich etwas abreagieren und auf andere Gedanken kommen. Gerade die Trennung von Tira zu Beginn des Herbstes gaben ihm immer noch Rätsel auf, für sich. War er es, der diese Beziehung beendete und einfach Angst vor einer möglichen weiteren Zukunft hatte, einen Schritt den er glaubte gehen zu müssen, aber nicht wollte. Und dann war da noch Faegryn, eine Freundin, eine Rohirr, eine Frau, die wusste was sie will und auch noch für ihn arbeitete. Was die Sache nicht leichter machte für ihn.

Ausgerechnet zu jener Zeit, als er ein Wochenende mit ihr in den Wetterbergen verbrachte, suchte ihn ein Waldläufer – ein Dunedain – auf. Jemand, welchen er schon seit vielen Jahren immer wieder gesehen hatte, von ihm Informationen und kleinere Aufträge erhielt. Er wusste noch nicht einmal seinen Namen, aber er wusste, dass es jemand ist, der viel über ihn wusste, immer wieder ein Auge auf ihn, seine Schwester und seinen Neffen hatte. Der kam und ging wie es ihm passte und meistens in den ungünstigsten Momenten, lautlos und hinterließ beinahe jedesmal größere Verwirrung, als das er geholfen hätte. So auch an jenem Wochenende, als er Eoddren mal wieder klar gemacht hatte, dass er die Vergangenheit ruhen lassen soll und einen klaren Kopf braucht, für das, was vor ihm liegt. Bereits Monate zuvor hatte er ihn aufgesucht und über einen Auftrag in den Nordhöhen gesprochen, der von größter Wichtigkeit ist und sie Eoddrens Hilfe dafür benötigten. Doch bis dahin sollte der Rohirr zusehen, dass sein Kopf klar war, sein Verstand messerscharf und er nicht durch Kleinigkeiten sich zu stark beeinflussen lässt, geschweige denn aus der Bahn werfen. Doch oftmals ist so etwas leichter gesagt, als getan und Eoddren bediente sich einer altbewährten Taktik, er verdrängte. Er verdrängte so sehr, dass er tatsächlich den Anschein erweckte, dass er alles im Griff hatte, doch zu einem Moment konnte er diese Taktik nicht durchführen, nämlich in seinen Träumen. Denn die Albträume blieben und verfolgten ihn nach wie vor und das merkte wohl jeder, der ihn einmal schlafen sah, unruhig, immer wieder aufwachend, von Angstschweiß gebadet.

Eoddren verbrachte das Wochenende, vor seiner Abreise noch mit Faegryn am Hengstackerhof in Bree, ein paar gemütliche Tage umringt von Pferden, von Ruhe und guten, freundlichen Menschen. Doch dann kam der Tag, an dem er sich verabschieden musste und weiter aufbrach gen Norden. Er sollte in einer Woche wieder zurück sein, doch wie es oft ist, kam es anders. Denn sein Auftrag war knifflig und gefährlich zugleich. Auf sich alleine gestellt, sollte er Informationen besorgen aus einem Lager, sich einschleichen und etwaige Dokumente entwenden, welche hoffentlich den Waldläufern und ihren Verbündeten Auskunft darüber gaben, woher der Feind seine Befehle bekam und was ihre nächsten Schritte sind. In nur einem Tag erreichte er das Lager und konnte noch die nötigen Vorkehrungen treffen um sich auch entsprechend einschleichen zu können. Der Rohirr wollte kein Risiko eingehen um aufzufallen oder den Verdacht erwecken, weswegen er hier war und so schlüpfte er in diese Rolle, eine Rolle, die recht rasch die Hand über ihn hatte und ihn innerlich zu Handlungen zwang, sowie auch die, in seinen Augen bestehende Notwendigkeit, den Kontakt zu seinen Auftraggebern vollständig abzubrechen.