Nachwuchsförderung

18. / 19. Oktober


Schragen war nur einen knappen Tagesritt entfernt und so traf Eoddren zur Mittagszeit des nächsten Tages ein. Er ritt lieber über Nacht, auch wenn der Weg dadurch gefährlicher wurde, von Räubern, Wölfen und Orks gesät, genoss er die Stille der Nacht, die Halbschatten durch das Mondlicht und die unverwechselbare einmalige Atmosphäre. Bereits andere Soldaten, unter Anderem auch sein Neffe Theonrid, hatten ihr Lager unten am Fluß aufgeschlagen, ein Zeltlager wie es eines Soldatentrupps würdig war, gesäumt von Wimpeln aus Rohan, Gonder, Bree und den Nordhöhen. Aus vielen verschiedenen Ecken waren sie gekommen und boten ihre Hilfe an, meist ehemalige Soldaten aus den Dienst ausgeschieden, Abenteurer, Söldner und auch junge Burschen, welche sich ihre Sporen verdienen wollten. Eoddren erkannte einige Gesichter der anwesenden Landsleute, begrüßte diese und nahm seinen Platz im Zeltlager, den eines Kommandanten würdig ein. Theonrid, sein Neffe, hatte bereits im Voraus das Zelt seines Onkels aufgebaut und geholfen das Lager entsprechend zu gruppieren und zu organisieren, sodass zumindest hier keine Unruhen zwischen den Völkern herrschte. Es war ein größeres Speichenradzelt samt Vordach, mit Planen aus dickem grünen Stoff, gesäumt mit einer gold-braunen Borte und dem typischen Mustern der Mark versehen. Am Eingang des Zelts prangerte in weiß eingestickt das Ross als Zeichen Rohans und auf der Spitze wehte eine grün, rote Wimpel der Ostfold, Eoddrens Heimat.

Rings um das Zelt des Kommandanten befanden sich mehrere kleinere Speichenradzelte, sowie einfache Mannzelte der Soldaten, sowie ein Pavillonzelt bestückt mit einem großen Tisch. In der Mitte des Lagers wurde eine große Feuerstelle aufgebaut, auf welcher sich bereits ein Gestell samt Kessel und darin befindlichen Eintopf befand. Eoddren blickte sich kurz um, mit einem dezenten Lächeln und einem knappen Nicken den Männern gegenüber.

«Westu hál, héafodmann!» erklang es aus einigen Ecken, als diese den Kommandanten erblickten, so auch Theonrid. Er sah zu ihm auf, wie zu einem Vater und hatte größten Respekt vor den Taten seines Onkels. So wollte Theo in die Fußstapfen dessen treten, trotz aller Warnungen und Versuche ihm dies wieder auszureden. Jetzt da Alandurien sich für einige Zeit verabschiedet hatte und keiner so genau wusste ob und wann sie wieder hier sein würde, war Eoddren ganz froh darüber bei dieser Gelegenheit selbst ein Auge auf ihn werfen zu können. Er musste gestehen, dass er trotz der Nähe, bis auf vereinzeltes Schwerttraining, ihn in letzter Zeit nur selten sah oder gar mit ihm mehr Zeit verbrachte. Doch war es um die Jahreszeit bereits auch Gewohnheit für Theonrid, dass sich sein Onkel eher rar machte oder sogar gänzlich von der Bildfläche verschwand für einige Monate. Entsprechend war auch dieser über den gemeinsamen Einsatz in Schragen nicht unglücklich, konnte er doch seinem Onkel nah sein, Erfahrung auf dem Felde sammeln und sogleich die Familienbande verstärken. Auch wenn Theonrid einer der jüngsten Soldaten war, so gab es auch noch erschreckend jüngere, welche gerade einmal alt genug waren einen Speer oder ein Schwert zu halten und annähernd in eine Rüstung passten. Sie hatten vielleicht durchschnittlich vierzehn Sommer gesehen und zogen als Schildknappen oder Vasalen durch die Lande um sich ihre Sporen zu verdienen.

Am auffälligsten von allen war ein junger Bursche von sechszehn Jahren, welcher jedoch bis lang immer noch in keiner Lehre stand und auch für die handwerkliche Arbeit des Vaters als Zimmerer nur wenig Begabung zeigte. So zog er es vor als Lagerknecht in Schragen wo er nur konnte seine Hilfe anzubieten, doch hatte dies einen erheblichen Nachteil, denn der Junge namens Lenodor besaß in jeglichen handwerklichen Belangen zwei linke Hände und war auch mit Speer oder Schwert nicht sonderlich begabt. Doch eines konnte er und das war wohl der Grund, warum ihm die Soldaten – Trupp für Trupp – im Lager behielten, er konnte singen und war auch nicht sonderlich ungeschickt an den Musikinstrumenten. Lenodor war ein recht typischer Junge aus dem Dorf, mit seinen dunkelbraunen kurzen zerzausten Haaren, welche leidenschaftlich gern in viele Windrichtungen abstanden, seiner schlanken und großen Statur, wirkte er jedoch schlacksig und drahtig und oftmals auch einfach unbeholfen.

Jene Unbeholfenheit wurde auch Eoddren sehr rasch demonstriert, als er mit fünf weiteren Reitern, darunter sein Neffe, Lennis Bitten und Betteln nachgab und ihn zu einem Spähritt mitnahm. Es sollte harmlos sein und schon gar nicht in einem Kampf enden, doch es kam wie es kommen musste und sie entdeckten ein kleines Lager von sechs, sieben Orks. Sich der Gefahr nicht bewusst und vollkommen unbekümmert, geschah es, dass Lenni durch zu lautes Reden und Hochhalten des Speeres, welcher in der Mittagssonne deutlich glitzerte, das gesamte kleine Orklager auf den Trupp aufmerksam machte. Es war ein Glück, dass es sich um erfahrene Kämpfer handelte und Lenni durch Eoddren sofort zu den Pferden wieder zurück geschickt wurde. So und nur so, konnte wohl das schlimmste verhindert werden. Überrumpelt und doch auf der Hut gelang es der Truppe die handvoll Orks niederzustrecken, ohne weitere auf sich aufmerksam zu machen oder gar das nicht weit entfernte Hauptlager der Orks auf sich zu lenken. Doch zahlten Eoddren und seine Männer einen hohen Preis, welcher sich nicht sofort zeigte. Denn einer der Reiter, wurde schwer getroffen und erlag seinen Wunden noch in der selben Nacht. Ein zweiter erlitt eine Hiebwunde an der Schulter und Tag für Tag gelang es ihm weniger seine Hand wie bisher zu gebrauchen. Greifen und Packen funktionierte noch, doch mit dem Schwert- oder Speerkampf war es vorbei.

Es war nicht seine Art, den Jungen dafür verantwortlich zu machen, im Gegenteil, die Vorwürfe über das Geschehene betrafen ausschließlich ihn selbst. Denn er war es, der den Jungen aus Gutmütigkeit und ohne weiterer Vorsichtsmaßnahmen zu diesem Ausritt mitnahm, er war es, der ihn auch noch eine Waffe in die Hand drückte und dafür zwei gute Männer verlor. Auch wenn keiner der Soldaten seinem Kommandanten einen direkten Vorwurf machte, so sah er dessen Blicke, hörte dessen Getuschel und es war offensichtlich, dass Lenni bald mit einem Racheakt zu rechnen hatte. Dieser würde ihm vermutlich zwar nicht das Leben kosten, es jedoch mit allen Mitteln zur Hölle machen und der Junge hatte es ohnehin schon schwer genug, zumindest wenn man den Erzählungen einiger Bewohner aus Schragen glauben schenken konnte. Auch diesen Abend saßen Eoddren, sein Neffe und einige andere Soldaten am großen Lagerfeuer inmitten des Lagers, aßen, tranken, erzählten sich Geschichten und ließen sich sogar von der begleitenden Musik von Lenni berieseln. Eoddren beobachtete, wie immer im Dienst, schweigend und nur sehr selten vage schmunzelnd das gesellige Beisammensein, trank ausschließlich Wasser und hielt sich auch beim Essen zurück. Ihm war es wichtiger, dass seine Männer, die Verletzten und die Aufgenommenen im Lager genügend zu Essen hatten, bevor er sich selbst nahm oder auch nur annähernd zur Ausgelassenheit über ging. Der rohirrische Kommandant schnappte sich plötzlich etwas Pergament und auch einen Schreiberling aus seinem Zelt, ehe er sich wieder zum Rest ans Feuer gesellte. Zwar musterte Theonrid ihn etwas stirnrunzelnd, doch sagte er nichts, als sein Onkel begann zu schreiben und es sich den Anschein nach um einen Brief, an seinen Freund Sam handelte. Dabei sah er immer mal wieder kurz auf, beobachtete den Jungen, ehe er weiter schrieb und die paar wenigen Zeilen mit seinem typischen E unterzeichnete.

«Lenni?» erklang es plötzlich in Eoddrens ruhiger und tiefer, fast schon brummiger Stimme über das Lagerfeuer hinweg. Er wartete auf keine Antwort, sondern setzte sofort weiter. «Ich nehme an du kannst nicht lesen, oder? Was hälst du davon, für mich einen Brief nach Bree zu bringen? Zu einem Freund? Wenn du dich geschickt anstellst, bekommst du vielleicht auch eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett.» Dabei faltete er auch schon den Brief und zeichnete auf die eingeschlagene Rückseite das Wappen des Gasthauses Zum tänzelnden Pony. Als Lenni dies wirklich verinnerlichte, sprang er sofort auf, packte sein Hab und Gut und wollte auch schon los stürmen, doch packte ihn Eoddren noch am Arm und ging mit ihm einige Schritte abseits der Gruppe.

«Hör mir gut zu. Ich will, dass du diesen Brief zu meinem Freund Trobador nach Bree bringst. Du wirst ihn abends mit hoher Sicherheit im Gasthaus Zum tänzelnden Pony finden. Frag am Besten ob er hier ist und ob du mit ihm sprechen kannst. Sag ihm einfach, dass ich dich schicke und überreiche ihm den Brief. Alles weitere wird er dir dann sagen. Hör bitte auf ihn und vorallem mach, was er sagt. Hast du mich verstanden, Lenni?»

Der Junge nickt energisch mit dem Kopf und packt sich auch schon den Brief unter sein Hemd. Eoddren half ihm noch beim Bereitstellen eines Pferdes und übergab Lenni auch noch eine großzügige Menge Geld, sollte er doch noch Quartier und Verpflegung zusätzlich benötigen. Der Rohirr war sich im Klaren, dass er damit Sam keinen Gefallen tat und doch erschien es ihm als die beste Lösung, zumindest für den Moment.